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Douglas Reed

Der grosse Plan der Anonymen

 

ERSTES BUCH

Rauch

1933-1939

II.

Ein Priester mit feinen Händen

Ereignisse und Menschen, deren Umrisse in den rauchigen dreißiger Jahren ganz klar waren, nehmen sich jetzt, da ich zehn Jahre später darauf zurückschaue, doch ganz anders aus. Dieser angenehme Bursche zum Beispiel, dem du keinerlei Treulosigkeit zutrautest, hat sich als ein Verräter erwiesen; und jener unangenehme Mensch da, dem du nicht trauen wolltest, ist es nicht gewesen. Die tagtäglichen Urteile sterblicher Menschen waren oberflächlich; himalaja-hoch über ihnen ragt die Wahrheit des alten Wortes: «Die Rache ist mein». Shakespeare hat gesagt: «Es gibt nichts, was gut oder was böse ist, sondern das Denken macht

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es so", und darin liegt die größte Gefahr unserer Tage, da den Menschen das Denken durch die Maschinerie der Massen-Irreführung abgenommen wird.

Man nehme nur einmal diesen Priester, den ich vor zehn Jahren in einer auf vielen Felsbuckeln erbauten alten Stadt, steil über Donau, traf. Rechteckig mitten zwischen ihre sich winnenden Straßen und alten Häuser gepflanzt, stand da das typische Hotel der zwanziger Jahre, und in dessen großem Speisesaal saß er, um sich herum ehrfurchtsvoll lauschende Zuhörer, denn er war der grosse Mann am Platze. Er hatte einen Kugelschädel, Bürstenhaar, einem Stiernacken, einen stattlichen Wanst und eine Wamme. Ganz instinktiv erwachte ein Antagonismus gegenüber politisierenden Priestern in mir.

„Das Denken macht es so»; wie unrecht hatte ich doch! Der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts, der für gewöhnlich lesen kann und wenig Unterscheidungsvermögen besitzt, hat aus überlebten Fehden eine Menge schriftlich niedergelegter Vorurteile geerbt auf seine eigene Zeit anwendet. Bei wievielen Menschen sind doch die Gedanken vorgeformt durch andere Menschen, längst gestorbene, die andere verflucht haben, welche auch schon längst vermodert sind! In allem, was ich gelesen hatte, war ich oft auf den „hitzköpfigen Priester» gestoßen, den «nichtswürdigen Priester“, den «klobigen Priester», den «falschäugigen Priester».

Vor mehr als zweihundert Jahren schrieb ein gewisser Jean Messelier in seinem Testament: «Das wird mein letzter und innigster aller meiner Wünsche sein: Ich möchte den letzten der Könige mit den Eingeweiden des letzten der Priester erdrosselt sehen.»

Voltaire griff diese Worte des Unverstands auf und veröffentlichte sie, vermutlich zum Spott; denn Voltaire war intelligent genug um vorauszusehen, daß der gemeine Mann schlimmer als Priester und Könige sein würde. Ein Messelier von heute mag so innig wie jener den Wunsch haben, den letzten der Kommunisten mit den weiden des letzten Faschisten erdrosselt zu sehen; und solche Worte, die heute nach fünfzig Jahren ungereimt klin-

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gen mögen, können sehr wohl auch dann noch unreife Gemüter begeistern, wenn ihre Wahrheit schon dahin ist. Aber wer gegen die sichtbaren Feinde der Gerechtigkeit und Freiheit kämpft, vergißt, daß seine Worte noch leben, wenn neue Feinde sich erhoben haben, und daß diese seine flammenden Worte direkt gegen das wenden, was er selber liebt. Sie identifizieren die Tyrannei mit verschiedenen Klassen und Berufen, während sie in Wirklichkeit eine Krankheit der Macht ist und jede folgende Gruppe befällt, die an die Macht gelangt - gerade wie die Wellen, die sich am Ufer brechen, obwohl in sich getrennt, in ihrer Gesamtheit ein Einziges und Ewiges sind.

Solche Vorurteile, veraltet, aber unkritisch aufgenommen, mochten meine unbestimmte Abneigung verursacht haben; sie und die Nähe der barbarischen Deutschen, die mich verfolgten. Sie waren gerade jenseits der Brücke, wenige hundert Meter entfernt. Würde dieser politisierende Priester gemeinsame Sache mit ihnen machen, fragte ich mich. Er besaß feine Hände, und das rief eine andere Erinnerung in mir wach: «der kunstliebende, feinhändige Priester ... »

Ich sehe heute klarer als damals im Rauch. Dieser Mann, um dessen Hals sich ebenfalls die Schlinge schließen sollte, war verschieden von Seyß-Inquart, ja das genaue Gegenteil. Er hat niemals eine falsche Ergebenheit vorgetäuscht. Er bekannte sich als Christ und slowakischer Patriot, und er starb dafür.

Die Slowakei! Der Brite ist insulär (obschon ich selten etwas so Insuläres gesehen habe wie jeden beliebigen Franzosen), und ich weiß nicht, wie er sich zwischen den fernen Slawen, Slowaken, Slowenen und Slawonen zurechtfinden soll. Und doch besitzen sie alle ihre Eigenart, ihre eigene, ganz besondere Sprache, ihre Geschichte und Lebensweise und ihren Hunger, frei in ihren Ländern zu leben. Tausend Jahre können diese Sehnsucht auch in den geringsten Völkerschaften nicht ersticken. Die Slowaken sind ein Bauernvolk; kein Volk, das seit Jahrhunderten unterjocht wird, vermag eine herrschende Klasse aus sich selbst zu bilden. Da sie

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keine Ritterschaft besitzen, müssen sie sich nach Führern unter der einzigen gebildeten Schicht umsehen, der Priesterschaft, die sich für gewöhnlich Bauernsöhnen rekrutiert.

Daher das Auftauchen dieses Vaters Tiso als Führer der Slowaken, als der zweite Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts sich näherte. Ich hatte ihn im Verdacht, daß er persönliche Beziehungen mit Hitler unterhielt, und ich täuschte mich nicht. Er mag in jenerNacht die Vertragsurkunde in der Tasche gehabt haben. In den dreissiger Jahren hielt ich es für eine wahnwitzige und böse Sache, dergleichen zu tun; in den vierziger Jahren wurde er dafür gehängt, aber wenn ich heute zurückschaue, ist seine Hinrichtung für mich unendlich viel böser. Tatsächlich, seine Gestalt nimmt für mich die Umrisse eines christlichen Märtyrers an.

Wäre es uns gegeben, das Ende derer vorauszusehen, mit denen wir zusammen an einem Tische essen, dann gäbe es eine ganze Menge grausiger Feste. Die reptilienhafte Ehrlosigkeit unseres Jahrhunderts hat ihre schleimige Spur in dem Gerichtsverfahren gegen diesen Mann und in seiner Hinrichtung hinterlassen. Sein Verbrechen bestand darin, daß er einen Vertrag mit Hitler unterzeichnet hatte! Käme es darauf an, wäre beinahe jeder europäische Politiker schuldig zu sprechen. (Das sah ich vor zehn Jahren noch nicht voraus.) Der Präsident der Tschechoslowakei selbst unterwarf sich Hitler, unter dem Druck der Ministerpräsidenten von Großhritannien, Frankreich und Italien, die von allen ihren politischen Parteien unterstützt wurden. Diese Handlungsweise (das Abkommen von München) machte den Weg frei für den Zweiten Weltkrieg, der dann wirklich durch einen Bündnisvertrag zwischen Hitler und dem Sowjetdiktator eröffnet wurde.

Aber den Priester-Präsidenten der winzigen Slowakei, der unter der Uebermacht dieser furchtbaren Kräfte einen Vertrag mit Hitler abschloss, den hängte man! Das Todesurteil war vom Präsidenten der Tschechoslowakei selbst unterzeichnet. Wie doch die Umrisse der Menschen sich verändert haben, wenn ich nun aus den vierziger Jahren auf die dreissiger zurückschaue! Ich habe

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diesen Präsidenten Benesch für den hervorragendsten Kämpfer für Freiheit und Recht gehalten. Ein Arbeitsmensch, kunstfertig, peinlich bürgerlich - ich sah in ihm den gemeinen Mann schlechthin, der zuletzt triumphierte, einen Streiter für die Befreiung von der Fremdherrschaft, schon vor 1914, der endlich den Lohn für seinen und seines Volkes langen Kampf geerntet hatte.

Ich habe in meinen Aufzeichnungen nachgesehen, was er mir in den dreißigcr Jahren über Deutschland gesagt hat. Da heißt es im Januar 1937: «Wenn ich sicher wäre, daß England und Frankreich ihre Bündnisverpflichtungen nicht halten, würde ich sofort eine Verständigung mit Deutschland suchen» ... Und im Dezember 1937: «Wenn Sie der Ansicht sind, wir seien ohne Nutzen, indem wir diese außerordentlich wichtige geographische Position in Zentraleuropa behaupten, von welcher der ganze Frieden in Europa abhängt, dann bedeutet das, daß es schlußendlich in unserem Interesse liegt, mit Deutschland zu einer Verständigung zu gelangen und bei allen Eroberungen Deutschlands mit dabei zu sein.»

So Präsident Benesch, dessen Land dann in der Folge wirklich «gezwungen war, mit Deutschland zu gehen». Zehn Jahre später bestätigte er das Todesurteil über Präsident Tiso, der sich in genau demselben Dilemma befunden hatte. Heute ist sein Land gezwungen, mit Rußland zu gehen, und die Hinrichtung Tisos erweist sich als ein Akt sowjetischer Politik. Vor dreißig Jahren mühte man sich, der Welt, in der «das Denken es so macht», beizubringen, die österreichischen Herrscher seien Tyrannen. Unter ihrer Herrschaft aber stand es Männern wie Masaryk und Benesch frei, für die Freiheit zu kämpfen. Dreißig Jahre später war alles, was die tschechischen Patrioten auf dem Altar der Dankbarkeit opfern konnten: die Hinrichtung eines slowakischen Patrioten.

Der beleibte Vater Tiso nimmt sich jetzt für mich ganz anders aus. Das Bild der Menschen wird häufig von seinem Hintergrund bestimmt, und Vater Tisos Bild ersteht auf dem Hintergrund eines unmenschlichen Martyriums für seinen Glauben und seine Vaterlandsliebe. Es wird verdunkelt von dem Firnis finsterster

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Heuchelei in der Beschuldigung: daß er - wie sein Henker - mit Hitler zusammengearbeitet habe. Seine letzte Botschaft, vom Schafott herab, an die Slowaken, war leuchtende Wahrheit in der einsinkenden Nacht: „Seid allezeit einig im Dienste an Gott und dem Vaterland, dies ist nach Gottes ausdrücklichem Gebot das Gesetz der Natur, dem ich mein ganzes Leben lang gedient habe. Ich betrachte mich als einen Märtyrer in der Verteidigung des Christentums gegen den Bolschewismus und ermahne euch, allzeit im Glauben und in der Ergebenheit an die Kirche Christi zu bleiben.

In jener Nacht, als ich ihn verließ, schenkte ich ihm wenig Gedanken mehr, denn die Slowakei und er selber schienen mir nur winzige Steine in dem großen Spiel zu sein. Auf den Straßen trampelten Nazi-Sturmabteilungen einher, die sich jetzt kaum noch Mühe gaben, ihre Ergebenheit zu verbergen. Der Krieg stand nahe bevor. Diese Deutschen, dachte ich, diese Deutschen ...

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